• Wien, Wien, nur Du allein

    Andreas Rainer erklärt, wie man die lebenswerteste Stadt der Welt überlebt.

    Von Josef Bordat

    Die Zeitschrift „The Economist“ setzte Wien 2023 in Sachen Lebensqualität wieder auf Platz eins der Städte weltweit. „Ausschlaggebend für die Bewertung war die hohe Lebensqualität: Die österreichische Hauptstadt punktete mit einem reichhaltigen Kulturangebot, guter Infrastruktur und hoher Sicherheit. Damit holte Wien nach 2018, 2019 und 2022 bereits zum 4. Mal in 5 Jahren die Spitzenposition in der Wertung“, so die prämierte Stadt auf ihrer offiziellen Website.

    Wien ist weltberühmt für Schnitzel, Prater und Opernball. Auch das traditionelle Neujahrskonzert wird global rezipiert. Doch die irrwitzigsten Vorstellungen spielen sich auf den kleinen Gassen der Stadt ab, nicht auf ihren großen Bühnen. Jeder Besuch im Kaffeehaus wird zum Kabarett, jede Fahrt mit der Straßenbahn hat das Potenzial zur Tragödie. Wo auch immer man hingeht, die österreichische Hauptstadt ist eine einzige Bühne, auf der Kellnerinnen, Straßenkehrer und Passanten zu Hauptdarstellern einer niemals endenden Vorstellung werden.

    Jemand, der sich damit auskennt, ist Andreas Rainer, der Wiener Alltagspoet. Er verbrachte drei Jahre in Nordamerika, wo er im Montreal Holocaust Memorial Centre seinen Zivildienst absolvierte und danach mittels Fulbright Stipendium am Bard College und der University of Connecticut unterrichtete. Nach sechs Jahren als Marketing Director für eine Social Media Plattform aus San Francisco beschloss er 2017, diese Karriere hinter sich zu lassen, um seinen Traum vom Schreiben zu verfolgen. Noch im selben Jahr gründete er die Instagram Seite Wiener Alltagspoeten auf der er seitdem Zitate und Beobachtungen aus dem Alltag Wiens für mittlerweile 180.000 Follower veröffentlicht. Was als kurzzeitiges Experiment geplant war, wurde zu einer der meist gelesenen Seiten Österreichs. Und nun hat Andreas Rainer sein gesammeltes Wien-Wissen in Buchformat gebracht: „Wie man die lebenswerteste Stadt der Welt überlebt“, so der süffisante Titel.

    Andreas Rainer taucht in seinem Buch mit 50 mal deftigen, mal sarkastischen Zitaten aus dem Alltagsleben tief in das Herz der Wiener Seele ein, um den unmöglichen Widerspruch einerStadt abzubilden, in der man zwar die Muße hat, den ganzen Tag im Kaffeehaus zu sitzen, aber schon eine Panikattacke bekommt, wenn die U-Bahn erst in sechs Minuten kommt. Dazu gibt es ein „Wien-Wörterbuch“. Und einen Kommentar zur „The Economist“-Rangliste haben die Wiener Alltagspoeten natürlich auch – Frau: „Jetzt hams Wien scho wieder zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt“ / Älterer Herr: „Najo, anderswo isses halt noch gschissener“. Für Freunde wie Skeptiker der lebenswertesten Stadt ein lesenswertes Buch.

    Andreas Rainer / Wiener Alltagspoeten: Wie man die lebenswerteste Stadt der Welt überlebt. Wien-Liebe to go. ‎Story.one – the library of life (2024). 98 Seiten, 18 €. ISBN: 978-3903715349.

  • Luthers Gewissen

    Robert Stratmann über einen Kernbegriff der Anthropologie in der Spur des Reformators

    Von Josef Bordat

    In der philosophischen und theologischen Ideengeschichte sind bestimmte Begriffe oft mit Personen verbunden. Beim „Naturrecht“ fällt einem sofort Thomas von Aquin ein, bei der „Theodizee“ denken wir an Gottfried Wilhelm Leibniz, „Erbsünde“ ist mit Augustinus, „Übermensch“ mit Friedrich Nietzsche verknüpft. Eine ähnlich feste gedankliche Verbindung existiert zwischen Martin Luther und „Gewissen“. Als der Reformator vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms 1521 seine vier Jahre zuvor veröffentlichten Thesen widerrufen soll, kann er das nicht. Denn er fühlt sich in seinem Gewissen gebunden an das, um das es ihm als Christ geht: das Wort Gottes.

    Überliefert sind Luthers Worte an den Kaiser wie folgt: „Da eure Majestät und eure Herrlichkeiten eine schlichte Antwort von mir erbitten, so will ich eine unanstößige und gemäßigte Antwort wie folgt geben: Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder klare Vernunftgründe überzeugt werde – denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es offenkundig ist, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überzeugt und gebunden in meinem Gewissen an das Wort Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln weder sicher noch heilsam ist. Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen“.

    Dieses starke und mutige Zeugnis macht Luther zu einem der ganz Großen in Sachen Gewissen. Viele haben sich seither auf den Reformator berufen, wenn sie ebenfalls ihre Position nicht aufgeben konnten, auch nicht unter größtem Druck. Doch wie verstand Martin Luther selbst den Gewissensbegriff? Wie wurde diese Deutung in der mittlerweile 500-jährigen Rezeptionsgeschichte betrachtet? Und was können wir heute daraus lernen? Ausführliche Antworten auf diese Fragen gibt Robert Stratmann in seinem Buch Martin Luthers Gewissensverständnis, dessen Rezeption und Gewissenspädagogik in evangelischer Perspektive heute.

    Stratmann zeigt, dass philologische Präzision, sorgfältiges Quellenstudium und tiefschürfende Exkurse (die Arbeit wurde 2022 als Dissertation am Theologischen Institut des Fachbereichs Erziehungs- und Kulturwissenschaft der Universität Osnabrück angenommen) auf der einen Seite sowie Verständlichkeit, Übersichtlichkeit und Praxisorientierung auf der anderen Seite nicht zwangsläufig auseinanderzugehen brauchen. Er schafft es, über ein großes und schwieriges Thema detailreich zu referieren, ohne den „roten Faden“ zu verlieren. Dieser führt ihn schließlich zu praktischen religionspädagogischen Empfehlungen, die sich in einem Satz verdichten: „Luthers Gewissensverständnis ist so exklusiv, dass es immer wieder neu entdeckt werden will“ (S. 260).

    Die kenntnisreiche Darstellung ist vor allem als Ausgangspunkt für weitere „Entdeckungsreisen“ bestens geeignet – philosophische und theologische (sowohl dogmatische als auch pastorale) Arbeiten zum Gewissensbegriff in protestantischer Perspektive werden von Robert Stratmanns Analyse profitieren können. Aber auch im außerakademischen Bereich, also etwa in der Gemeindearbeit, bietet das Buch für Exkursionen in Luthers Gedankenwelt die geeignete Landkarte.

    Robert Stratmann: Martin Luthers Gewissensverständnis, dessen Rezeption und Gewissenspädagogik in evangelischer Perspektive heute. ‎Münster: LIT Verlag (2024). 272 Seiten, 39,90 €. ISBN: 978-3-643-15354-8.

  • Zeitenwende

    Ein Sammelband befasst sich mit der Passion und der Auferstehung Jesu

    Von Josef Bordat

    Zeitenwende – ein Schlagwort unserer Tage. Es bekommt jenseits der Rückkehr des Wettrüstens verfehdeter Nationalstaaten eine Bedeutung, wenn wir an die großen Themen des 21. Jahrhunderts denken: Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Klimawandel. Und erst recht ergibt sich der tiefe Sinn des Begriffs, wenn wir an das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte denken: die Auferstehung. Sie kann wohl als die „Mutter aller Zeitenwenden“ aufgefasst werden.

    Mit diesem Neuanfang in der Geschichte – das Christentum als neue Religion ist ohne die Auferstehung nicht denkbar – beschäftigt sich ein Sammelband, der von Renate Brandscheidt herausgegeben wurde: „Das Ende, das ein Anfang war“, erschienen bei Media Maria.

    Gemeinsam mit ihren Co-Autorinnen und Autoren Sandra Labouvie, Sven Voigt und Dietmar Bell deutet uns die Trierer Exegetin die Ereignisse um Leiden, Tod und Auferstehung Jesu im Evangelium nach Markus. Und ein zentrales Ergebnis von Exegese und Interpretation ist: Jesu Leidensweg und seine Auferstehung leiten nach dem Zeugnis des Neuen Testaments eine neue Ära ein. Seit dem ersten Ostern gibt es Christen, seitdem ist der Tod für ebendiese Christen nicht das Ende, sondern ein Anfang. Denn jenseits des irdischen Lebens eröffnet die Auferstehung Ewiges Leben.

    Um diese Glaubenswahrheit zu plausibilisieren, gehen die Autorinnen und Autoren zunächst den Leidensweg Jesu nach und erläutern dabei die heilsgeschichtliche Bedeutung einzelner Elemente der Passionserzählung nach Markus, um dann die Auferstehung als entscheidenden Wendepunkt zu charakterisieren, der sich ausgehend vom biblischen Zeugnis im Glaubensleben niederschlägt, wie die liturgie- und pastoraltheologischen Beiträge des Bandes zeigen.

    Die Texte sind fachlich fundiert, bleiben jedoch in ihrer klaren und verständlichen Sprache nicht dem theologischen Fachpublikum vorbehalten. Damit weist der Sammelband „Das Ende, das ein Anfang war“ ein echtes Alleinstellungsmerkmal auf. Seine Beiträge können sowohl Theologinnen und Theologen in ihrer bibelwissenschaftlichen Arbeit als auch Seelsorgerinnen und Seelsorgern in der Praxis von Gemeindeleben und Verkündigung wertvolle Impulse geben.

    Renate Brandscheidt (Hg.): Das Ende, das ein Anfang war. Der Leidensweg Jesu und seine Auferstehung in der Passionserzählung des Evangelisten Markus. ‎Illertissen: Media Maria (2024). 320 Seiten, 22 €. ISBN: 978-3947931569.

  • Wendezeit

    Karl-Ludwig Kley plädiert für einen breiten Energiemix ohne Tabus

    Von Josef Bordat

    Noch ein Buch zum Klimawandel. Aber eines, das sich zu lesen lohnt. Denn Karl-Ludwig Kley, Ex-Manager großer deutscher Wirtschaftsunternehmen (Bayer, Lufthansa, Merck), formuliert in „zehn ungehaltenen Reden“ zehn Schritte, wie wir die Herausforderungen in Sachen Klima und Energie in den Griff bekommen können. Sein Buch „Klar zur Wende“ erschien in der Deutschen Verlags Anstalt (München).

    Kleys gute Nachricht: Die nötigen Technologien für die Energiewende sind größtenteils bereits vorhanden. Sie müssen „nur“ effizient genutzt und weiterentwickelt werden. Dafür ist es seiner Ansicht nach vor allem notwendig, die Bürokratie zu reformieren, politische Prioritäten neu zu ordnen und den Diskurs zu entmoralisieren. Ausgehend davon fächert Kley die einzelnen Aspekte der Klima- und Energiepolitik auf. Von der Windenergie über Photovoltaik und Atomkraft bis hin zur Wasserstofftechnologie werden verschiedene Energieerzeugungsmethoden analysiert. Dabei sei eine breite Basis, so die These Kleys, Voraussetzung für die Sicherung unseres Wohlstands.

    Fragwürdig ist dieser Ansatz des Verfassers, weil in sein Credo, wir sollten uns energietechnisch „alle Optionen offenhalten“, explizit auch die Kernenergie eingeschlossen wird. Atomkraft ist zwar aufgrund geringerer Emissionswerte verhältnismäßig klimafreundlich, doch aufgrund des Risikos von Strahlungsaustritt zugleich hochgefährlich. Zudem: Das Müll-Problem ist ungelöst. Bis heute hat die zivile Nutzung der Atomkraft weltweit insgesamt bereits über 300.000 Tonnen radioaktiven Abfalls verursacht. Dessen Endlagerung ist nicht sicher, von „Entsorgung“ kann keine Rede sein. Der Abfall wird noch die nächsten 100.000 Jahre über strahlen und niemand kann heute sagen, welche Folgen das haben wird. Es gibt derzeit noch überhaupt kein Endlager für den Atommüll, er gibt nur „Zwischenlager“. Darüber geht Kley zu rasch hinweg, verharmlost das Risiko.

    Karl-Ludwig Kley versteht sein Buch als Teil eines „aktiven Eintretens für die Demokratie“, als produktiven Debattenbeitrag auf dem Weg zu einer Energiewende, die gleichermaßen von Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft akzeptiert und getragen wird. Ein solcher Beitrag zeichnet sich dadurch aus, dass er genug Ecken und Kanten hat, an denen man sich stoßen kann. Insoweit kann das Vorhaben als gelungen bezeichnet werden.

    Klar-Ludwig Kley: Klar zur Wende. So können wir das Steuer bei Klima und Energie noch rumreißen. München: Deutsche Verlags Anstalt (2024). 172 Seiten, 23 €. ISBN: 978-3-421-07032-6.

  • Ins Moor

    Mattias Eliasson zeigt uns ein ebenso beeindruckendes wie bedeutendes Naturphänomen seiner schwedischen Heimat

    Von Josef Bordat

    Die schwedischen Moore sind ein geschätzter Ort für die Jagd, das Sammeln von Beeren, das Beobachten von Vögeln und im Winter für Skitouren auf dem harten, knirschenden Schnee. Einzigartig in ihrer Form, bedecken Moore rund 15 Prozent der Fläche des skandinavischen Landes.

    Jenseits der geheimnisvollen Ästhetik und des Erlebniswerts für den Menschen sind die nordeuropäischen Moore als Faktor bei der Bekämpfung des Klimawandels bedeutsam: Moore sind als natürliche Kohlenstoffsenken unentbehrlich, denn die dicke Torfschicht speichert doppelt so viel Kohlenstoff wie die gesamte geschätzte Waldbiomasse der Erde.

    Mattias Eliasson ist ein Kenner dieser Region. Er lebt im südschwedischen Småland und besitzt eine Hütte im Moor Mittelschwedens. Er ist Autor, Fotograf, Filmer und Holzskulpteur. In seinem bei KJM erschienenen Buch „MOOR“ aus der Reihe „European Essays on Nature and Landscape“ erkundet Eliasson mit Hilfe persönlicher Erfahrung und künstlerischer Begabung seine Heimat.

    Poetisch und bildgewandt beschreibt er seine Reise durchs Moor und blickt auf ein Land voll faszinierender Facetten, ein ungestörtes, friedvolles und ruhiges Land, das das Gefühl eines Ozeans, einer Savanne, einer sanft gewellten, blühenden Wüste vermittelt.

    Immer wieder begegnet Eliasson dabei dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné, der mit der binären Nomenklatur die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie schuf. Vor etwa drei Jahrhunderten hat er die Wildnis von Laponia erforscht und katalogisiert. Die geschichtsträchtige Natur, die Eliasson bereist, zeigt ein urwüchsiges Land jenseits der Bullerbü-Klischees.

    Mattias Eliasson teilt in „MOOR“ seine Liebe für dieses Land. Die eindrücklichen Naturbeschreibungen, die informativen Karten, die weiterführenden Literaturhinweise, die begrifflichen Erklärungen im Glossar und nicht zuletzt die stimmungsvollen Fotos nehmen die Leserinnen und Leser mit ins Moor und setzen den wichtigen Umweltfaktor kenntnisreich und einfühlsam in Wort und Bild.

    Mattias Eliasson: Moor (aus dem Schwedischen übersetzt von Gabriele Haefs). Hamburg: KJM Buchverlag (2024). 141 Seiten, 22 €. ISBN: 978-3-96194-234-3.

  • Trauer – Leben nach dem Tod

    Sandra Stelzner-Mürköster weist Hinterbliebenen den Weg zurück ins Leben

    Von Josef Bordat

    Der Erscheinungstermin könnte kaum besser gewählt sein. Mitten in der Karwoche, den Tagen des Jahres also, an denen Christen des Leidens und Sterbens Jesu gedenken, legt Trauerexpertin Sandra Stelzner-Mürköster im Gütersloher Verlagshaus ihr neues Buch vor: „Zurück ins Leben finden“.

    Zurück ins Leben finden – das mussten damals die Freundinnen und Freunde Jesu, das müssen heute alle, die den Verlust eines geliebten Menschen zu beklagen haben. Für sie ist dieses Buch eine wertvolle Hilfe. Die Autorin, die selbst im Alter von 30 Jahren unerwartet ihren Mann verlor, teilt dabei nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen, sondern bietet auch tiefe Einblicke in die bewegenden Herausforderungen, vor denen Trauernde auf geistiger, körperlicher und seelischer Ebene stehen.

    Sandra Stelzner-Mürkösters Ratgeber weist den Weg zurück ins Leben, ohne die Illusion zu erwecken, dass alles plötzlich einfach wird. Es verspricht jedoch, dass ein aktives, lebenswertes Leben durch die Trauer hindurch möglich ist, wenn die innere Bereitschaft dazu geschaffen und eine klare Entscheidung für das Leben getroffen wird. Die Trauer selbst braucht Zeit, die man ihr auch geben sollte.

    Unterstützend wirken in dieser Trauerzeit, in der komplexe Veränderungen auf allen Ebenen unseres Dasein erlebt werden, die im Buch grau unterlegten „Gedankenreisen“, auf die Sandra Stelzner-Mürköster ihre Leserinnen und Leser einlädt. So halten sich theoretische Informationen und praktische Handlungsanregungen die Waage. Ein Buch voller Erkenntnis und Erfahrung im Kontext der Trauerarbeit.

    Sandra Stelzner-Mürköster: Zurück ins Leben finden. Die Botschaft der Trauer annehmen und wieder Lebensfreude spüren. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (2024). 224 Seiten, 20 €. ISBN: 978-3-579-07489-4.

  • Hysterie heute

    Pauline Voss geht dem hyperpolitischen Befindlichkeitswahn unserer Zeit auf den Grund.

    Von Josef Bordat

    Eigentlich ist Wokeness eine gute Sache: ein waches, wachsames Bewusstsein (das englische Wort „woke“ bedeutet „wach“, „wachsam“) für fehlende soziale Gerechtigkeit und diskriminierende Strukturen (wie etwa Rassismus) steht uns allen gut zu Gesicht. Wie alles im Leben kann aber auch die Wokeness übersteigert werden und totalitäre Züge annehmen.

    So ist die „Cancel Culture“, die hässliche Schwester der Wokeness, längst omnipräsent. Die besonders woken (vor allem) jungen Menschen sind nicht bereit, die „Folgelast“ (Habermas) der offenen Gesellschaft zu tragen. Heißt: Es mangelt an Toleranz, und zwar immer dort, wo Sagbarkeits- und Verhaltenskriterien aufgestellt werden, denen eine bestimmte inhaltliche Festlegung im Rücken steht. Wer diesen Kriterien nicht genügt, muss nun nicht mehr allein mit Kritik an der „Grenzüberschreitung“ als solcher rechnen (das gehört selbstverständlich zum Diskurs), sondern damit, im Diskurs insgesamt „ausgelöscht“ zu werden, indem etwa Veranstaltungen mit unliebsamen Personen einfach „abgesagt“ (englisch: „canceled“) werden, um sich erst gar nicht mit ihren Positionen befassen zu müssen.

    Dass kaum jemandem aufzufallen scheint, wie totalitär dies ist und welches Diskriminierungspotenzial dem innewohnt, überrascht etwas. Da ist es wohltuend, in Pauline Voss, ehemalige Redakteurin der Neuen Zürcher Zeitung und derzeit freie Journalistin, eine aufmerksame Beobachterin zu haben, die sich diese eigentümlichen Prozesse unserer Gegenwartskultur angeschaut hat und ihre Erkenntnisse in dem streitbaren Buch „Generation Krokodilstränen“ zusammenfasst.

    Version 1.0.0

    Ihre Kritik stützt sich methodisch auf den Philosophen Michel Foucault. Sie zeigt, warum Foucaults Ansatz keineswegs als Legitimation für die totalitäre Wokeness dienen kann, sondern – im Gegenteil – diese vielmehr delegitimiert. Überzeugend entschlüsselt die Autorin so die Machttechniken der woken Generation, der sie vom Alter her selbst angehört. Übrig bleibt von der Wokeness nicht viel mehr als ein neues Spießertum, das sogar – auch das kennt man aus der Ideenwerkstatt des Totalitarismus – die Sexualität kontrollieren will. Pauline Voss leistet einen wichtigen Beitrag zu einer überfälligen Debatte.

    Pauline Voss: Generation Krokodilstränen. Über die Machttechniken der Wokeness. München: Europa Verlag (2024). 200 Seiten, 22 €. ISBN: 978-3958906136.

  • Alles über die deutsche Elf

    Daniel Michel und Lars Pollmann erzählen uns im EM-Jahr Geschichte(n) rund um Deutschlands Fußballnationalteam.

    Von Josef Bordat

    Die deutsche Fußballnationalmannschaft ist seit einigen Jahren in der Dauerkrise – Wikipedia schreibt von „Ansehensverlust und Abschied aus der Weltspitze“. Als seien die Zeiten nicht schon schwer genug. Der Sport ist hier einmal mehr Spiegelbild der Gesellschaft. Und nun steht ausgerechnet in dieser Lage eine Heim-EM ins Haus. So etwas gibt es nicht so oft – die letzte war 1988, vor 36 Jahren. Viele Fans waren da noch gar nicht geboren. Etwas „Geschichtsunterricht“ in Sachen Nationalmannschaft (kurz: „Die Mannschaft“) ist da wohl nötig.

    Diesen besorgen Daniel Michel und Lars Pollmann mit gehörigem Augenzwinkern.

    Nach dem Fußball allgemein

    und dem FC Bayern

    geht es in der Yes-Reihe „Unnützes Wissen“ nun also um das DFB-Team.

    Michel und Pollmann beantworten in ihrem Buch so spielentscheidende Fragen wie „Wer darf als ‚Angstgegner‘ Nummer 1 des DFB-Teams gelten?“, „Wo haben schon mal sagenhafte 170.000 Zuschauer ein Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft live im Stadion verfolgt?“, „Welcher Nationalspieler trägt neben Jamal ‚Bambi‘ Musiala noch einen tierischen Spitznamen?“, „Ist Deutschland tatsächlich eine starke Mannschaft im Elfmeterschießen?“ und „Was unterscheidet die Toptorjäger Gerd Müller und Miroslav Klose?“

    Das Material wird übersichtlich aufbereitet und die grau unterlegten Kästen liefern eine wahre Faktenflut. Fußball ist ein Ergebnissport, so hat mal jemand gesagt. Da wundert es nicht, dass sich vieles um Zahlen und Daten dreht. Mal aufschlussreich, mal abgefahren. Essenzielles wechselt sich mit Kuriosem ab, so dass der Streifzug durch über ein Jahrhundert Nationalmannschaftsgeschichte nie langweilig wird. Selbst wenn die Recherche Dinge zu Tage fördert wie den Gegner des DFB-Teams beim 500sten Länderspiel am 17. Juni 1984 (damals im Westen noch ein Feiertag) – Rumänien (Ergebnis: 2:1 für Deutschland). Unnützes Wissen? Eben!

    Auch Fans müssen sich auf ein Turnier vorbereiten. Daniel Michel und Lars Pollmann legen mit ihrem launigen Buch den Grundstein für eine gelungene EM. Zumindest dafür, dass man in Erinnerungen schwelgen kann, wenn es mal nicht so läuft. „Gegen 28 seiner 92 Gegner weist der DFB eine 100-prozentige Siegquote auf“. Na, bitte.

    Daniel Michel / Lars Pollmann: Unnützes Wissen über das DFB-Team. Erstaunliche Fakten über die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. München: Yes Publishing (2024). 176 Seiten, 12 €. ISBN: 978-3-96905-310-2.

  • Die Krankheit verstehen, die Beschwerden lindern

    Alles, was Sie über Endometriose wissen sollten

    Von Josef Bordat

    Endometrium ist der medizinische Fachbegriff für die Gebärmutterschleimhaut. Als Endometriose bezeichnet man die krankhafte Wucherung der Gebärmutterschleimhaut ausserhalb der Gebärmutterhöhle im Beckenbereich, aber auch an verschiedenen anderen Stellen des gesamten Bauchraums. Auch der Darm oder die Lunge können betroffen sein. Endometriose-Gewebe verfügt über die Eigenschaft, prinzipiell an jeder Stelle des Körpers wachsen und so Beschwerden verursachen zu können – Schmerzen und Unfruchtbarkeit. Bei jeder zweiten Frau, die ungewollt kinderlos bleibt, ist Endometriose die Ursache. Endometriose ist die zweithäufigste gynäkologische Erkrankung, etwa 2 Millionen Frauen in Deutschland sind betroffen.

    Grund genug, diese komplexe Erkrankung in einem speziellen Buch zu betrachten. Stéphanie Mezerai, Naturheilkundlerin mit dem Schwerpunkt Frauenheilkunde, Spezialistin für die Linderung von Endometriosebeschwerden auf ganzheitliche Weise, und Sophie Pensa, Journalistin, Gesundheitsberaterin, Yogalehrerin und Expertin für Frauengesundheit, haben dieses Buch gemeinsam verfasst: „Endometriose. Ein ganzheitlicher Weg zur Linderung der schmerzhaften Krankheit“. Erschienen ist es im Narayana Verlag.

    In ihrem Leitfaden vermitteln sie umfassende Methoden, die bereits Tausenden von Frauen helfen konnten. Hier bedarf es einer großen Offenheit, denn so komplex, wie die Endometriose in Erscheinung tritt, so vielfältig sind auch die Behandlungsmöglichkeiten. Stéphanie Mezerai und Sophie Pensa weisen kompetent und anschaulich den Weg durch die Schul- und Komplementärmedizin. Ihr ganzheitlicher Ansatz berücksichtigt aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Naturheilkunde, Ernährungswissenschaft und Psychosomatik.

    Stéphanie Mezerai und Sophie Pensa bieten Betroffenen Hilfe für Körper, Geist und Seele, indem sie ihnen die Krankheit erklären und ihnen einen schmerzlindernden Umgang mit ihr ermöglichen – durch ein Spektrum an therapeutischen Hinweisen zur Bedeutung der Ernährung, zu einem Entgiftungsprogramm, zu Osteopathie, Massage, Akupunktur, Homöopathie, Pilates und Yoga, zu den Möglichkeiten und Grenzen von Hormonbehandlungen und Operationen. Viele Wege zu einem Ziel: mehr Wohlbefinden und mehr Vertrauen in den Körper.

    Stéphanie Mezerai / Sophie Pensa: Endometriose. Ein ganzheitlicher Weg zur Linderung der schmerzhaften Krankheit. Kandern: Narayana Verlag (2024). 292 Seiten, 22,80 €. ISBN: 978-3-96257-308-9.

  • Allgegenwärtiger Austausch

    Francis Waldvogel stellt uns das Prinzip für die Entwicklung von Natur- und Kulturphänomenen vor: Emergenz.

    Von Josef Bordat

    Die Suche nach einer alles verbindenden und damit für alles verbindlichen Weltformel ist so alt wie die Menschheit. Abseits religiöser Vorstellungen wird den Funden systematisch Skepsis entgegengebracht, wissen wir doch um die Differenziertheit der zu beschreibenden Phänomene. Dennoch sind auch die Naturwissenschaften transdisziplinär ausgerichtet, um zumindest ein breites Spektrum an empirischen Beobachtungen erklären zu können, wenn nicht gar einen universellen explikativen Hebel zu finden.

    Darin reiht sich auch das neue Buch des Mikrobiologen und Mediziners Francis Waldvogel ein, das 2023 im Schwabe Verlag erschien: Die Vielfalt der Emergenz. Vom Atom bis zur Natur des Menschen. Der Autor ist emeritierter Professor der Medizin, ehemaliger Direktor des Departementes Medizin in Genf, Vizepräsident des Wissenschaftsrates und Präsident der schweizerischen Technischen Hochschulen sowie aktuelles Mitglied der schweizerischen medizinischen Akademie und der deutschen Akademie Leopoldina.

    Von der Mikro- bis zu Makroebene gibt es ein klammerndes Prinzip für die Entwicklung von Natur- und Kulturphänomenen: die Emergenz, verstanden als Austausch. Aus vertrauensvoller Wechselwirkung entstehen lebenschaffende Beziehungen. Und das sowohl auf der Mikroebene des Subatomaren als auch auf der Makroebene gesellschaftlicher Kommunikation, sowohl im Rahmen natürlicher als auch im Rahmen kultureller Prozesse. Waldvogels These macht Hoffnung, dass das derzeit so offen zutage tretende und in seiner ganzen Kälte deutlich spürbare Misstrauen in unserer menschlichen Gemeinschaft – zwischen Völker und Nationen, zwischen Gruppen und Generationen – überwunden werden kann, gerade weil es dem natürlichen Emergenzprinzip widerspricht.

    Die Idee hinter der Emergenz ist die beobachtbare „Großzügigkeit“ der Natur, die sich, so Waldvogel, auf die Kultur übertragen lasse. Emergenz ist allgegenwärtig: in der Sprache, in sozialen Bindungen, in der Musik, im Wissen und auch in der Wirtschaft. Geist, Gefühl und Körper bilden von daher eine Einheit und sind mit dem jeweiligen Umfeld eng verbunden. Aus seiner These entwickelt Waldvogel eine holistische Weltsicht, die ohne die naturwissenschaftliche Basis im luftleeren Raum esoterischer Spekulation hin und her waberte. Doch die kenntnisreiche mikrobiologische Aufklärung in den ersten drei Kapiteln verleiht den Schlussfolgerungen in Richtung Kultur und Gesellschaft (Kommunikation, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst) großes Gewicht.

    Alles ist mit allem verbunden. Ein gerade heute, in einer Zeit der Partikulatitäten, der „Minderheitengesellschaft“ (Habermas) ohne gemeinsame Religion oder Weltanschauung wichtiger Merksatz. Ja, überlebenswichig ist die Anerkennung der ineinander verflochtenen Beziehungen natürlicher und kultureller Vorgänge – Stichwort: Klimawandel. Francis Waldvogels Buch gibt wissenschaftlich fundierte Anregungen, wie wir zu gelingender Kommunikation und tragfähigen Kompromissen kommen: durch das Emergenzprinzip. Auf gut deutsch: Austausch.

    Francis Waldvogel: Die Vielfalt der Emergenz. Vom Atom bis zur Natur des Menschen. Basel: Schwabe Verlag (2023). 248 Seiten, 28 €. ISBN: 978-3-7965-4868-0.

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